Ausbruch aus der Komfortzone
10.06.2019
Interview:
Gunther Baumann
Die Hamburger Globetrotter Lena Wendt und Ulrich Stirnat drehten mit „Reiss Aus“ einen großartigen Reisefilm, der in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen fällt. Erstens wegen seines Themas: Es geht um eine zweijährige Auto-Expedition nach Westafrika. Und zweitens wegen seiner Entstehung: Die Idee zum Film entstand nämlich erst, als er bereits abgedreht war. Der Regisseur Hans-Günther Bücking legte den beiden Weltenbummlern nach ihrer Rückkehr ans Herz, aus dem Videomaterial von 675 Drehtagen eine Kino-Doku zu schneiden. Im FilmClicks-Gespräch erzählen Lena Wendt und Ulrich Stirnat über ihre Abenteuer in Afrika, über den Film – und natürlich über das Reisen.
FilmClicks: Mit einem alten Land Rover auf großer Fahrt durch Westafrika: Was hat Sie zu dieser Expedition angeregt?
Lena Wendt: Ich war zuvor schon viel im Osten Afrikas unterwegs und hatte eine Weile in Südafrika gelebt. Und ich hatte den Traum, wenn ich mal den richtigen Partner habe, dann kaufen wir uns ein eigenes Auto und fahren die westafrikanische Küste hinunter. Durch all die Länder, die ich noch nicht kannte. Und mit einem eigenen Zuhause, mit dem man bleiben kann, wo man will, ohne auf eine Unterkunft angewiesen zu sein.
Ulrich Stirnat: Vor der Fahrt hatte ich ein Burnout und entschloss mich im Zuge der Aufarbeitung, meinen Job zu kündigen. Als ich mich traute, Lena davon zu erzählen, kam sie mit der Idee zu der Reise um die Ecke. Und ich dachte, geil, einfach ausbrechen, das Burnout und die Depression hinter mir lassen und durch Abenteuer ersetzen. Ich hatte keine Vorstellung davon, was mich auf der Reise erwarten würde. Das längste, was ich bis dahin kannte, waren sechs Wochen am Stück in den USA, mit meinen Eltern im Wohnmobil.
Wie lange haben Sie sich auf die Fahrt vorbereitet?
Lena: Was mich betrifft: gar nicht. Bis eine Woche vor der Abfahrt hatte ich noch Arbeitswochen mit 90 Stunden. Das einzige, was ich tat, war einen zweiten Reisepass zu besorgen und mich impfen zu lassen. Für mich ging’s darum, auszubrechen aus dem ganzen Arbeits-Scheiß. Ich war Journalistin geworden mit dem Ziel, etwas Sinnhaftes zu tun und die Welt ein bisschen besser zu machen. Aber ich hatte im Beruf nicht das Gefühl, dass ich die Chance dazu habe. Deshalb war ich mega-erleichtert darüber, dass mir die Reise die Chance eröffnete, das alles hinter mir zu lassen.
Ulli: Ich bin mehr der Planer von uns beiden und habe die Reise so ein halbes Jahr vorbereitet. Ich musste ganz genau wissen, was da Sache sein würde, um mich halbwegs wohlzufühlen. Also habe ich viel recherchiert – von Tipps für den Umbau des Autos bis zu den Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes. Das war aber eine blöde Idee, denn die warnen einen vor praktisch allem.
In Ihrem Film „Reiss aus“ sieht man Szenen, die sehr riskant wirken – zum Beispiel, wenn Sie jenseits markierter Straßen in die Sahara fahren und dann mit dem Auto im Sand steckenbleiben. Kam Ihnen das selbst gefährlich vor oder gingen Sie davon aus, dass man Sie im Extremfall schon finden und retten würde?
Ulli: Ich machte mir Gedanken über die Risiken. Als es in die Sahara hineinging, wusste ich ungefähr, wie lange der Sprit reicht – soundsoviele Kilometer auf Teerstraßen, ein bisschen weniger in der Wüste. Und ich überlegte, was machen wir, wenn das nicht passt? Dadurch konnte ich gar nicht so richtig den Moment genießen, in der Wüste zu sein, weil ich dauernd dachte, oh mein Gott, hoffentlich kommen wir da wieder raus.
Lena: Diese Sorgen konnte ich nicht nachvollziehen – dass Ulli das Geschenk nicht sehen konnte, das wir gerade bekamen. Ich war einfach glücklich in dieser Freiheit der Wüste, dieser Stille und diesem unendlichen Nichts. Und es machte mich traurig, von Ulli zu hören, „ich wäre jetzt lieber im Skiurlaub; ich weiß gar nicht, warum ich mir diesen Stress überhaupt antue.“ Man muss jetzt dazu sagen, dass wir erwartet hatten, in der Sahara andere Reisende zu treffen, an die wir uns anhängen oder von denen wir Tipps bekommen könnten. Aber da war niemand, wegen der gerade aktuellen Ebola-Gefahr in Westafrika. Vor der Abfahrt hatten wir in Deutschland ein Offroad-Fahrtraining gemacht, doch die hatten alles außer Sandfahren. Also trauten wir uns in die Wüste, ohne eine Ahnung von den Anforderungen zu haben. In den ersten Tagen haben wir zum Beispiel vergessen, Luft aus den Reifen zu lassen. Über den Tag wird der Sand ja immer heißer und dadurch weicher. Also sind wir immer mit Vollgas von härterer zu härterer Stelle gefahren. Doch wir haben uns trotzdem ungefähr fünf Mal festgefahren. Erst am dritten Tag kamen wir auf die Idee, den Reifendruck zu reduzieren. Dann ging es besser. Aber man muss sagen, wir waren supernaiv.
Hätte die Sahara-Querung also auch schiefgehen können?
Ulli: Nein, das glaube ich nicht. Wären wir wirklich stehengeblieben, dann wäre das eine ziemliche Herausforderung gewesen. Aber es kommen selbst dort immer wieder mal Menschen vorbei. Sei es Touristen…
Lena: …oder Nomaden. Dort leben Leute, wo man am wenigsten damit rechnet. Man findet überall Spuren von Menschen. Wir hatten genug zu essen und zu trinken dabei – das wäre schon gutgegangen.
Afrika gilt ja nicht gerade als einfache Urlaubs-Destination – es gibt Sorgen vor Unruhen, bis hin zum Terrorismus, vor Tropenkrankheiten oder auch vor Konfrontationen mit Korruption. Haben Sie unterwegs Situationen erlebt, die beängstigend wurden?
Ulli: Nein. Gefährlich und furchterregend wurde es nie.
Lena: Ich glaube, bei dieser Art des Reisens ist es wichtig, immer auf sein eigenes Bauchgefühl zu achten. In jeder Sekunde. Und dann ist es genauso wichtig, zu schauen, wie halte ich meine Mundwinkel. Es geht ums Lächeln. Man hat es immer mit Menschen zu tun, und da ist der erste Eindruck entscheidend. Wenn ich Offenheit ausstrahle und meine Mundwinkel nach oben halte, dann habe ich eine ganz andere Energie als in einer Abwehrhaltung. Und dann kriege ich auch Positives zurück.
Ich habe auf meinen Reisen die Erfahrung gemacht, dass eine potenzielle Gefahr umso größer wirkt, je weiter man vom Gefahrenherd weg ist.
Lena: Das stimmt. Vor Ort stellt sich die Situation immer anders dar als aus der Entfernung. Nehmen wir zum Beispiel Mali: Dort leben ganz normale Leute ihren ganz normalen Alltag, und der Terror kommt von außen. Das sind ein paar Bekloppte, die dort ganz viel Mist machen. Aber Mali ist trotzdem ein wunderschönes Land, unheimlich gastfreundlich und liebenswert.
Reden wir über Ihren Film „Reiss aus“. Der ist nicht nur sehr abenteuerlich und spannend – er wirkt auch handwerklich sehr professionell. Sind Sie mit Profi-Equipment und dem Ziel losgefahren, nach der Rückkehr einen Film über Ihre Reise zu produzieren?
Lena: Nein. Wir hatten eine ganz normale Nikon-Kamera dabei, mit der man auch filmen kann. Und dazu einen sechs Jahre alten klappbaren Camcorder und eine Gopro. Wir hatten unseren Eltern, die sich Sorgen um uns machten, versprochen, einen Videoblog zu gestalten. Ich schnitt schon in Marokko, als wir wegen Regen tagelang festsaßen, ein kleines Video über das Land. Das machte ich dann für jedes Land: Wie fühlt sich Mali an? Wie fühlt sich Burkina Faso an oder die Elfenbeinküste? Denn wer weiß das schon zuhause. Das war eine kleine sinnhafte Aufgabe für den Alltag, der ja auch mal ein bisschen stupide sein kann, wenn man nur reist. Dann lernten wir unterwegs viele coole Leute kennen, die interessante Projekte realisierten, und denen wollte ich etwas dalassen. Also habe ich ihnen kleine Filme gemacht, mit denen sie zum Beispiel Spenden sammeln konnten.
Wie viel Videomaterial haben Sie aus Afrika mitgebracht?
Ulli: Unendlich viel. Das Datenmaterial, das in den zwei Jahren unserer Reise entstand, umfasste knapp drei Terabyte. Da braucht man Wochen, um das abzuspielen. Als wir ein Jahr nach der Rückkehr den Entschluss fasten, den Film zu machen, saß Lena acht Wochen lang jeden Tag zehn Stunden vor dem Bildschirm, um alles zu sichten.
Wie haben Sie die Produktion von „Reiss aus“ finanziert? Nur mit Crowd Funding oder erhielten Sie auch eine Förderung?
Lena: Wir haben gar keine Förderung bekommen, denn die Reise war ja nicht als Filmprojekt geplant. Am Anfang stand eine Fotoausstellung, die ich nach der Heimkehr über unsere Fahrt gestaltete. Ich wollte im Zuge der Flüchtlingskrise zeigen, wie schön es in Afrika ist und dass niemand freiwillig seine Heimat verlässt. Bei dieser Ausstellung lernten wir den Regisseur Hans-Günther Bücking kennen, der uns den Floh ins Ohr setzte, aus dem Material einen Kinofilm zu machen – nicht als Reise-Doku, wie es sie zu Tausenden gibt, sondern als mutiges, ehrliches Projekt mit unserem Video-Tagebuch als Grundlage. Ohne Hans wäre unser Film erstens nicht existent und zweitens nicht so, wie er ist. Jedenfalls erzählten wir allen, dass wir jetzt einen Film machen, hatten aber noch keine Vorstellung davon, was das kostet.
Ulli: Wir haben uns dann in der Szene umgehört und es gab Produktions-Studios, die mitmachen wollten. Aber nur unter der Voraussetzung, dass sie auch mitbestimmen. Doch das wollten wir nicht, weshalb wir uns zur Eigenfinanzierung über Crowdfunding entschlossen. Die Postproduktion hat dann über den Daumen gepeilt so 30.000 bis 35.000 Euro gekostet. Also very low budget.
Lena: Das ging nur, weil wir ein kleines Team um uns rum hatten, das ohne Honorar nur mit Kostendeckung arbeitete. Auch wir selbst haben uns nie ein Gehalt gezahlt, sondern unsere letzten Ersparnisse in das Projekt gesteckt. Familie und Freunde haben uns ein bisschen unterstützt, und dazu kam das Crowdfunding. Und jetzt haben wir ein fertiges Produkt.
Ulli: In Deutschland hatte „Reiss aus“ bisher so 35.000 Zuschauer im Kino. Damit wären wir für eine Referenzmittel-Förderung qualifiziert, falls es denn ein neues Filmprojekt geben würde.
Würden Sie allen Europäern empfehlen, große Reisen wie Ihre Afrika-Expedition zu machen?
Lena: Ich glaube, das Reisen bildet enorm. Und es hilft einem immer, die eigene Komfortzone zu verlassen. Ein aktuelles Thema ist allerdings, dass das Reisen durch Medien wie Instagram so schöngemalt wird. Da sieht man nur Traumstrände und tolle Bauten, aber man sieht nicht die Stinkesocken, die Nerven- oder die Auto-Zusammenbrüche, die nun mal auch dazugehören. Wenn man unzufrieden mit seinem Leben ist, sollte man sich erst einmal fragen: Was ist eigentlich mein persönlicher Traum? Mir hat das Reisen geholfen, von außen auf mein Leben zu schauen und zu erkennen, was mir wichtig ist. Andere mögen vielleicht davon träumen, einen Käsekuchenladen aufzumachen. Es geht darum, sein eigenes Ziel zu erkennen, und dann den Mut zu haben, aus der Komfortzone auszubrechen. Das Reisen erfüllt dich dann, wenn es genau dein Traum ist – aber nicht, wenn es nicht dein Ding ist.
Ulli: Reisen ist gut, um seinen Horizont zu erweitern und um festzustellen, dass das, was im eigenen Dunstkreis passiert, nicht unbedingt der Nabel der Welt ist. Die neuen Blickwinkel, die man durch das Reisen kennenlernt, sind wichtig, um mehr Verständnis zu bekommen für andere Menschen. Ich selbst war früher so gefangen in meinem Alltag, dass ich gar nicht mehr herauskam. Das Wichtige am Reisen ist, dass es dir hilft, den Abstand herzustellen, um zu reflektieren. Um Erfahrungen zu machen.