Die Nacht der 1000 Stunden

Die Lebenden treffen die Toten


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„Die Nacht der 1000 Stunden“: Die Lebenden und die Toten geben sich ein Stelldichein © Thimfilm
DIE STORY: „Die Nacht der 1000 Stunden“ ist eine Familien-Saga der surreal-grotesken und auch politischen Art, die gelegentlich spannend wie ein Thriller wirkt.
Der Film beginnt in unserer Zeit im Palais eines Wiener Clans, der Ullichs, die gerade daran gehen, die eigene Traditionsfirma an den Juniorchef Philip (Laurence Rupp) zu übergeben.
Plötzlich passiert etwas: Tante Erika (Elisabeth Rath), die gerade den Vertrag unterschreiben will, sinkt tot zu Boden. Was ihren Sohn Jochen (Lukas Miko) bei aller Trauer mächtig freut: Die Mama wollte ihn nämlich wegen seiner rechtsradikalen Gesinnung enterben.
Zu früh gefreut, allerdings. Kaum ergeht sich Jochen in ersten Macht-Phantasien, sitzt seine tote Mutter wieder quietschlebendig am Tisch. Und sie unterzeichnet das Dokument, das ihren Sohn  zum Verlierer macht.
Während die Ullichs noch darüber sinnieren, was es mit der (schein-)toten Tante auf sich hat, klopft es schon wieder an der Tür. Der Reihe nach taucht ein verblichenes Clan-Mitglied nach dem anderen auf, darunter die laszive Großtante Renate (Amira Casar), die schon 1938 dahinschied. Bald ist die gesamte Sippschaft aus den unterschiedlichsten Epochen versammelt.
Dem enterbten Jochen wird das Ganze irgendwann zu bunt und er ruft die Polizei, die in Gestalt eines k.u.k. Ermittlers (Udo Samel) erscheint. Als der pickelhaubenbewehrte Gesetzeshüter Blutspuren entdeckt, wird er ganz streng: Gab es hier, in dieser „Nacht der 1000 Stunden“, vielleicht einen Mord, den es aufzuklären gilt?

Politisch weit rechts daheim: Der enterbte Erbe Jochen (Lukas Miko) © Thim

DIE STARS: Virgil Widrich, der Autor und Regisseur, bewies schon bei seinem für den Oscar nominierten Kurzfilm „Copy Shop“ (2002), dass er gern die Realität und das Absurde auf der Leinwand verknüpft. Für „Die Nacht die 1000 Stunden“ holte er einen ebenfalls Oscar-nominierten Meister der Bildgestaltung ins Team: Kameramann Christian Berger arbeitet oft mit Michael Haneke („Das weiße Band“) und bebilderte zuletzt das Pitt & Jolie-Beziehungsdrama „By The Sea“, bei dem Angelina Jolie Regie führte..
Das Ensemble, angeführt von Laurence Rupp („In drei Tagen bist du tot“), versammelt erstklassige Darsteller aus der österreichischen und deutschen Bühnen- und Filmszene. Amira Casar, Britin mit russischen und kurdischen Wurzeln, spielt die weibliche Hauptrolle des melancholischen Vamps Renate.
 
Ein surreales Techtelmechtel: Der lebendige Philip (Laurence Rupp) und die tote Renate (Amira Casar) © Thim

DIE KRITIK:
„Hinter jedem großen Vermögen steht ein Verbrechen“, formulierte einst Honoré de Balzac. In „Die Nacht der 1000 Stunden“ bekommt der junge Erbe Philip (Laurence Rupp) eine geradezu magische Gelegenheit, diesbezüglich die Vergangenheit seiner Familie zu abzuklopfen.
Denn normalerweise müsste man ja Akten und Korrespondenzen wälzen, um die Geschehnisse aus alter Zeit zu dokumentieren. Regisseur Virgil Widrich hingegen haucht den Verblichenen neuen Atem ein, und die positionieren sich nur zu gern wieder dort, wo ihr Leben einst geendet hat. Allerdings hegen die reanimierten Vorfahren der Ullichs durchaus Zweifel an ihrem Tun: „Welchen Sinn hat diese Streiterei, wenn es uns doch gar nicht mehr gibt?“
Doch egal: Den lieben Verstorbenen sind weder Streitereien noch andere menschliche Regungen fremd. Alte Eifersüchteleien brechen wieder auf. Das sexuelle Begehren entzündet sich (die melancholisch-attraktive Renate, amtlich seit 1938 tot, vernascht den jungen Philip). Und die ganze Großfamilie ist vereint im Versuch, das Rätsel um den einzigen Abwesenden, den  Patriarchen Hermann, zu lösen.
Dass Hermann offiziell beim Bombenangriff auf Wien am 12. März 1945 ums Leben kam, sollte seinem Erscheinen nicht im Wege stehen – die anderen Toten sind ja schließlich auch da. Oder kam Hermann vielleicht unerkannt hereingehuscht, um gleich darauf eines neuen Todes zu sterben? Blutspuren am Boden deuten auf ein Verbrechen hin. Allerdings findet sich keine Leiche. Der Fall wirft eine neue moralische und juristische Frage auf: Ist es überhaupt möglich, einen Toten ermorden?
Virgil Widrich gelingt in diesem hochelegant bebilderten Kammerspiel der Kunstgriff, dass man als Zuschauer gern bereit ist, die groteske Grundsituation zu akzeptieren. Was damit zusammenhängen mag, dass der Regisseur die surrealen Ereignisse in größtmöglichem Realismus ablaufen lässt.
So erlebt man „Die Nacht der 1000 Stunden“ als sehr aparte Mischung aus Krimi, Familien-Saga und Zeitgeschichte-Dokument. Wie nicht anders zu vermuten, stellt sich heraus, dass die ehrbare Unternehmerfamilie der Ullichs stets auch das Talent besaß, unangenehme Angelegenheiten unter den Teppich zu kehren. Nicht zuletzt in den Jahren von 1938 bis 1945, in denen Österreich ein Teil von Hitler-Deutschland war.
Fazit: „Die Nacht der 1000 Stunden“ ist ein sehr ungewöhnlicher und spannender Film – Zeitgeschichte einmal anders. Die ausgezeichneten Darsteller haben sichtlich Freude daran, als lebende Lebende oder tote Lebende ihr Spiel zu spielen.     
 
IDEAL FÜR: Filmfreunde, die der Idee etwas abgewinnen können, ein ernstes Thema auf sehr skurrile Art behandelt zu sehen.






Trailer
LÄNGE: 95 min
PRODUKTION: Österreich / Luxemburg / Niederlande 2016
KINOSTART Ö: 18.11.2016
REGIE:  Virgil Widrich
GENRE: Drama
ALTERSFREIGABE: ab 16


BESETZUNG
Laurence Rupp: Philip Ullich
Amira Casar: Renate Bode
Elisabeth Rath: Erika Bode
Lukas Miko: Jochen Bode
Barbara Petritsch: Gertrude Ehrenfried
Johann Adam Oest: Georg Ullich
Linde Prelog: Berta Ullich
Udo Samel: Polizist