GESAMTEINDRUCK: „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ ist die elegante, fantasievolle, gelegentlich skurrile und stets exzellent gespielte Verfilmung der Erinnerungen von André Heller an seine frühen Jahre.
DIE STORY: Der 12-jährige Paul Silberstein (Valentin Hagg) wächst in den Fünfzigern in einem reichen Wiener Elternhaus auf, ohne die Privilegien seiner Herkunft genießen zu können. Sein jüdischer Vater (Karl Markovics) strahlt – eine Spätfolge der Demütigungen durch die Nazi-Diktatur – keine Zuneigung, sondern emotionale Kälte aus. Paul wird in ein Jesuiten-Internat abgeschoben, wo er mit christlich verbrämter Grausamkeit konfrontiert ist. Der Junge zieht sich in die innere Emigration zurück und erfindet erste Ansätze zu einem phantastischen Kosmos. Der frühe Tod des Vaters wirkt wie eine Befreiung: Aus Paul wird ein „funkelnder Hundling“.
DIE STARS: Auch wenn der Protagonist Paul Silberstein heißt: Hauptfigur von „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ ist natürlich André Heller, auf dessen gleichnamigem Buch der Film basiert.
Für den zwölfjährigen Paul / André wurde mit Valentin Hagg eine sensationelle Besetzung gefunden. Der Sohn einer Wiener Schauspieler-Familie spielt in seinem ersten Film derart natürlich, sensibel und souverän, dass man nur staunen kann.
Rund um Valentin Hagg agieren große Schauspieler wie Karl Markovics, Sabine Timoteo, Udo Samel oder der Franzose André Wilms. Selbst die Nebenrollen sind mit ersten Kräften wie Marianne Nentwich, Werner Friedl, Robert Seethaler, Petra Morzé, Sigrid Hauser oder Gerti Drassl exzellent besetzt.
Regisseur Rupert Henning ist nicht nur für die Inszenierung verantwortlich, sondern er schrieb gemeinsam mit seinem langjährigen Co-Autor Uli Brée („Vorstadtweiber“) auch das Drehbuch.
DIE KRITIK: Filmbiografien haben oft das Problem, dass sie eine lineare Lebensgeschichte erzählen, die sich schwer mit der gewohnten Kino-Dramaturgie vereinbaren lässt: Die Story läuft nicht auf einen Showdown hinaus, in dem sich entscheidet, ob die Helden ihre Prüfungen bestehen oder ob die Liebenden zueinander finden.
Das gilt auch für „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“. Die Autoren Uli Brée & Rupert Henning haben das Beste aus dem Problem gemacht: Sie kümmern sich nicht groß drum. Ihr Film besteht aus zwei Teilen. In der ersten Hälfte geht’s um Paul Silbersteins Leben vor dem Tod seines Vaters, in der zweiten Hälfte um das Leben danach. Spannung entsteht nicht durch das Warten auf ein großes Finale, sondern durch eine Vielzahl von kleinen Episoden, die den Zuschauer fesseln und zugleich neugierig machen, was wohl als nächstes geschieht.
Gleich zu Beginn des Films geht’s ordentlich zur Sache, wenn Silberstein Senior seinen Sohn aus einem Ruderboot ins Wasser stößt – mit der Aufforderung „erst lernst‘ schwimmen.“
Exakt das ist es, was der kleine Paul fortan (im übertragenen Sinne) zu tun hat. Weil es ihm im strengen Elternhaus und dem nicht minder strengen Internat an Anregungen und Unterstützung fehlt, muss er auf eigene Faust seinen Weg in die Welt erkunden. „Auf und davon“, lautet sein erstes Motto, das man schon nach wenigen Minuten erfährt. Ein anderes: „Werde nicht wie alle, die du nicht sein willst.“
Vom Stil her ist die für österreichische Verhältnisse teure Produktion (Budget: ca. vier Millionen Euro) sehr luxuriös geraten. Als Wohnhaus der Familie Silberstein etwa hat Regisseur Rupert Henning die Hermes-Villa im Wienerwald ausgewählt – ein Schlösschen, das Kaiser Franz Joseph für seine Gemahlin Elisabeth erbauen ließ und das in der Realität als Museums-Dependance dient.
Die Kostüme sind edel, die Spielweise ist überhöht: Karl Markovics, der kleine Valentin Hagg und all die anderen agieren eher expressionistisch als introvertiert. Da darf die Mimik der Darsteller schon mal ins Grimassenhafte wechseln. Auch Augenrollen nach Art des Stummfilms ist nicht verpönt.
Das Interessante daran: Was in anderen Filmen vielleicht peinlich wirken würde, passt in diesem Fall perfekt zum Text. Denn André Heller befleißigt sich ja keiner Alltagssprache. Die Sätze, die seinem Alter Ego Paul Silberstein in den Mund gelegt werden, sind tiefsinnig und verschnörkelt zugleich.
So kommt Valentin Hagg als ebenso altkluges wie abenteuerhungriges Kind über die Leinwand, das in seiner Ausdrucksweise wie ein Gesandter aus vergangenen Epochen wirkt. Mit Themen freilich, die auch jeden jungen Menschen in der Gegenwart berühren (sollten): „Nur Freiheit führt zum Glück. Sein Geheimnis ist der Mut.“
Kurzum: „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ ist ein Film mit einem gediegenen Fundament, von der Ausstattung über die eleganten Bilder (Kamera: Josef Mittendorfer) bis zum famosen Ensemble, das wie aus einem Guss agiert. Die ernsthafte und beschwingte Coolness, die der junge Neuling Valentin Hagg unter all diesen Profis an den Tag legt, ist aller Ehren wert.
Der eigenwillige und eigentümliche Film entfaltet im Lauf von 140 Minuten einen Sog, der einen immer tiefer in die Geschichte hineinzieht. Man verfolgt ja nicht nur den Protagonisten Paul auf seinen Wegen, „bei sich selbst ein Kind zu sein.“ Der großartige Karl Markovics macht die Seelenqualen des alten Silberstein deutlich, den die Erinnerungen an die Nazi-Diktatur und den Holocaust peinigen. Sabine Timoteo gelingt das stimmige Porträt einer wachsbleichen Ehefrau, die zu neuem Leben (und zu einer tiefen Verbindung mit ihrem Sohn Paul) aufblüht, wenn die Karten durch den Tod ihres Gemahls neu gemischt werden.
André Wilms, Udo Samel und Werner Friedl haben in der Begräbnis-Sequenz schöne Rollen als schrullige Silberstein-Onkels, die ihrem Neffen Paul wundersame frische Blicke auf die Welt (und seinen Vater) eröffnen. Marianne Nentwich als gütige Tante Tuva hilft Paul, das Rätsel um den unnahbaren Vater besser zu verstehen.
Robert Seethaler und Harald Schrott demonstrieren als Geistliche, wie unbarmherzig der Katholizismus sein kann. Gerti Drassl und Petra Morzé gestalten kleine Szenen, in denen es auf sehr unterschiedliche Weise um Lust und Seelenqual geht, zu großen Momenten. Sigrid Hauser darf aufblitzen lassen, wie großartig sie singen und spielen kann.
So wird die filmische Lebensgeschichte des jungen André Heller alias Paul Silberstein zu einer Art Episoden-Drama; mit einem starken roten Faden, der aus der Phantasie und der Poesie der Zentralfigur gesponnen wurde. Ach, und auch daran lässt es der Film nicht fehlen: In einer in jeder Hinsicht zauberhaften Sequenz führt Regisseur Rupert Henning vor, wie der kleine Paul jene Talente aufblitzen lässt, mit denen später der erwachsene André Heller seine künstlerische Laufbahn in Angriff nehmen wird.
IDEAL FÜR: Freunde von klugem Konversationskino, von ungewöhnlichen Coming-Of-Age-Dramen – und natürlich für die Fans von André Heller.