GESAMTEINDRUCK: Das Kindheits-Drama „Der Junge muss an die frische Luft“, das auf dem autobiografischen Bestseller des Komödianten Hape Kerkeling beruht, ist einer der berührendsten Filme des Jahres 2018.
DIE STORY: Das Ruhrgebiet in den Siebzigern. Der dickliche Hans-Peter Kerkeling (Julius Weckauf) entdeckt als Kind sein Talent, andere zum Lachen zu bringen. Irgendwann wird der Humor zur Medizin. Die Komödie hilft ihm, um über den Tod seiner Oma Änne (Hedi Kriegeskotte) wegzukommen. Und er setzt seinen Witz ein, um seiner Mutter Margret (Luise Heyer) ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, denn sie versinkt in einer Depression. Die Krankheit ist zu stark: Die Mutter stirbt durch eine Überdosis Schlaftabletten. Hans-Peter bracht lange, um seinen Lebensmut wiederzufinden. Dann erntet er Applaus-Orkane im Schultheater. Und sein beruflicher Lebensweg ist vorgezeichnet.
DIE STARS: Der deutschen Regisseurin Caroline Link, die 2003 mit „Nirgendwo in Afrika“ einen Oscar gewann, gelang beim Casting für „Der Junge muss an die frische Luft“ ein Glücksgriff. Mit dem mittlerweile elfjährigen Julius Weckauf, der nie zuvor vor einer Kamera gestanden hatte, wurde eine Idealbesetzung für den jungen Hans-Peter Kerkeling gefunden.
Rund um dieses komödiantische Naturtalent verströmen renommierte Schauspieler wie Joachim Król, Sönke Möhring oder Hedi Kriegeskotte viel authentisches Ruhrpott-Gefühl. Die Berlinerin Luise Heyer schenkt der depressiven Mutter viel zerbrechliche Traurigkeit und starke Emotion.
DIE KRITIK: „Der Junge muss an die frische Luft“ folgt – wie viele Film-Biografien – keinem massiv geknüpften Handlungs-Strang mit großem Showdown. Das Werk erinnert mehr an eine Perlenkette aus vielen kleinen Episoden und Anekdoten, Komödien und Tragödien. Diese Perlen glänzen, was das Zeug hält – mal strahlend schön, mal düster und voll von Traurigkeit. Und aus der kleinen, sehr privaten Geschichte einer Kindheit entsteht ganz großes Kino.
Man ist also zu Gast bei der Familie Kerkeling in Recklinghausen. Einfache Leute: Der Vater (Sönke Möhring) ist als Tischler oft auf Montage; die Mutter (Luise Heyer) arbeitet im Laden der Oma (Hedi Kriegeskotte) als Verkäuferin. Und der kleine Hans-Peter (Julius Weckauf) flitzt zwischen Schule, Freunden und Elternhaus dahin.
Der Neunjährige hat’s nicht ganz leicht bei den Gleichaltrigen, weil er als pummeliges Kind gern mal verspottet wird. Doch (gutmütiger) Spott liegt ihm selbst im Blut. Er hat die Anlage zum Parodisten: Wenn er Kunden aus dem Laden oder auch TV-Berühmtheiten imitiert, ist ihm der Applaus seiner Zuschauer sicher.
Hans-Peter belässt es nicht bei Worten. Ein paar improvisierte Requisiten, und er verwandelt sich in einen kleinen Mann mit Schnauzbart (wie später Hape Kerkelings berühmte Figur Horst Schlämmer). Oder er bettelt so lange, bis man ihm für den Karneval ein Kleid schneidert, weil er sich nicht als Indianer oder Pirat kostümieren will, sondern als Prinzessin.
Das klingt nach heiler Welt und ist es auch. Doch das Unheil naht mit großen Schritten. Die herb-resolute und zugleich sehr liebevolle Oma Änne wird krank und stirbt. Schwer zu verkraften für den Enkel, der sehr an ihr hing. Noch schlimmer ist aber der Zustand der Mutter, die immer heftiger mit Depressionen ringt. Wenn Hans-Peter versucht, sie aufzuheitern, hat das etwas Verzweifeltes.
Eines Abends, ihr Mann ist wieder einmal auf Montage, zieht sich die Mutter früh ins Bett zurück. Während Hans-Peter im Nachbarzimmer sitzt, schluckt sie die Schlaftabletten, die ihr Leben beenden. Der Sohn ahnt, dass die Geräusche und dann die Stille von nebenan nichts Gutes verheißen. Als klar wird, dass die Mutter tot ist, zerreißt es ihm das Herz.
Regisseurin Caroline Link inszeniert all diese Szenen voller Zuneigung zu ihren Figuren; mit einem Feingefühl, das niemals auch nur im Ansatz voyeuristisch wirkt. Man sitzt nicht als ungebetener, sondern als willkommen geheißener Gast bei der Familie Kerkeling. Ganz automatisch vergleicht man das Geschehen mit Höhe- und Tiefpunkten aus der eigenen Kindheit. Und man fühlt sich mit all diesen rauen und herzlichen Figuren tief verbunden.
Caroline Link findet nicht nur in ihrer Inszenierung stets den richtigen Ton. Sie hat auch ein Ensemble, das diese Familiengeschichte atemraubend sensibel auf die Leinwand bringt. Die Schauspieler agieren allesamt famos, und der kleine Julius Weckauf ragt noch heraus. Voller Natürlichkeit, Charme und Schelmerei bringt er jede Szene auf den Punkt, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht.
So ist „Der Junge muss an die frische Luft“ ein überwältigender Familienfilm geworden, der viele bedeutende Themen des Menschseins tangiert. Große FilmClicks-Empfehlung – allerdings sollte man nicht vergessen, ein paar Taschentücher mit ins Kino zu nehmen. Viele Zuschauer werden sie in den besonders berührenden Momenten brauchen.
IDEAL FÜR: Fans von Hape Kerkeling und für Freunde intensiver Familiengeschichten.